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DegitalisierungDie letzte Generation

Überall ist Krise, doch in fast keinem Bereich haben wir einen Überblick. Wenn sich das für die nächsten fünf Weltkrisen ändern soll, müssen Menschen in unserer Verwaltung schnell umdenken – und für mehr Vernetzung und Austausch sorgen, schreibt unsere Kolumnistin.

Symbolbild - Stapel Akten
Symbolbild – Digitalisierungstatus Deutschland CC-BY-NC-SA 4.0 owieole

Diese sonntägliche Ausgabe von Degitalisierung beginnt mit einer direkten Ansprache: Wir sind mitten in einem Notfall und brauchen einen umfassenden Wandel! Und du bist Teil des Problems! Aber auch Teil der Lösung!

Nun wäre es wesentlich einfacher, wenn wir alle den Klimanotfall, in dem wir uns befinden, in unserem Handeln entsprechend ernst nehmen würden – speziell auch die Generation, die nur noch wenig von den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels mitbekommen wird. Eigentlich ist damit alles Wichtige bereits gesagt. Digitalisierung ist in dem Gesamtkontext im Grunde nur eine Randnotiz.

Pause. Lange Pause.

Zum eigentlichen Thema dieser Kolumne: Es gibt im Kontext der Digitalisierung ebenfalls eine letzte Generation. Eine Generation, die entweder einen sinnhaften digitalen Wandel möglich macht – oder vom digitalen Wandel überrannt werden wird, ohne ihn sinnvoll mitgeprägt zu haben. Und ja, auch diese letzte Generation ist gegenwärtig mitverantwortlich für eine nachhaltige digitale Zukunft.

Multiple Krisen, multiple Probleme

Wir befinden uns aktuell in einer multiplen Krisensituation. Klimakrise, Pandemie, Krieg in der Ukraine, Energiekrise und so weiter. Um mit diesen Krisen umzugehen, brauchen wir funktionierende Strukturen in der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitswesen – auch langfristig.

Wie hoch ist beispielsweise aktuell der Erdgasverbrauch oder auf welchem Level bewegen sich die Corona-Fallzahlen? Ganz genau wissen wir das selten. Wir haben meistens kein aktuelles und umfassendes datenbasiertes Lagebild, unsere Kommunikationswege sind voller Brüche und stocken an zentralen Knotenpunkten. Und so wirklich wissen wir auch nicht, wer dafür zuständig sein soll.

Das ist leider seit Anbeginn der Pandemie mit täglichen Corona-Fallzahlen so. Und es ist keineswegs trivial, den aktuellen Erdgasverbrauch in Deutschland herauszufinden. Ähnliches gilt oftmals auch für andere Krisenlagen. Vor allem in neuen Situationen ist es zunächst eine Herausforderung, einen Überblick zu gewinnen.

Woran liegt das?

Strukturen, die um sich selbst kreisen

Das Problem mit den Daten und der Kommunikation darüber ist in vielen Bereichen strukturell begründet. Genauer gesagt liegt das daran, wie Organisationen Netze und Systeme bauen.

„Organisationen, die Systeme entwerfen, […] sind gezwungen, Entwürfe zu erstellen, die die Kommunikationsstrukturen dieser Organisationen abbilden“, stellte der Informatiker Melvin Conway schon 1968 fest. Das sogenannte Conway’s Law trifft immer wieder zu und wird in Krisen zum erheblichen Problem. Kommunikationswege, die nur nach hierarchischen Baumstrukturen ablaufen können, sind zäh und fehleranfällig, kurz: In Krisensituationen sind sie eher hinderlich.

Verwaltungen, die Dateninfrastrukturen bauen, tun dies meist nur für die eigene Kommune, das eigene Bundesland oder das eigene Ministerium. In einer Krisensituation schnell mit anderen vernetzen und ein allgemeines Lagebild bekommen? Kaum möglich. Ein weiteres Hindernis: Viele der Systeme, die nur aus Organisationssicht entworfen wurden, sind für Außenstehende unbenutzbar.

Brauchen wir also erst einen tiefgreifenden Strukturwandel, damit digitale Transformation gelingen kann? Ja und nein. Eigentlich ja, weil das so viel einfacher machen würde, von null zu beginnen. Und eigentlich nein, denn: Eine langwierige selbstreferentielle Beschäftigung mit Organisationsstrukturen führt zu wenig, weil es den Machtanspruch einiger Weniger am oberen Ende dieser Organisationen gefährdet. Organisationen wie die öffentliche Verwaltung fürchten um die mühsam aufgebaute Behörde und den in Stein gemeißelten Stellenplan.

Wir können nicht darauf waren, dass „die Verwaltung“ oder „das Gesundheitswesen“ endlich grundlegend reformiert worden ist, um für ein besseres Handeln im Digitalen einzutreten.

Warum funktioniert eigentlich das Internet?

An der Diskussion über digitalen Organisations- und Strukturwandel ist vor allem auch eines bemerkenswert: Sie findet in einer Zeit statt, in der wir schon seit Jahrzehnten im Internet miteinander kommunizieren. Gerade im Netz haben wir gelernt, durch unterschiedliche Hierarchien und Strukturen sowie über Länder und Kontinente hinweg zueinander zu finden, miteinander zu kommunizieren und Daten auszutauschen.

Wir sollten daher den Wert offener technischer Standards, gemeinsamer Datenformate und flacher Netzstrukturen längst verstanden haben, weil wir täglich von diesen profitieren. Der Minimalanspruch sollte daher lauten: Behalte deine Organisationsstruktur, wenn es unbedingt sein muss und sich darin dein Machtanspruch begründet. Aber sei offen, dich bis auf unterster Arbeitsebene direkt mit anderen zu vernetzen.

Für die letzte Generation, die den digitalen Wandel noch sinnvoll mitprägen kann, wird eines entscheidend sein: inwieweit sie diese Form der Vernetzung und Zusammenarbeit ermöglicht, auch und gerade auf der untersten Arbeitsebene. Selbst wenn dies in einer Organisationsstruktur passiert, die nicht besonders gut dafür geeignet ist.

Standesdünkel

Die Verwaltung muss dazu auch an der eigenen künstlich aufgebauten Fallhöhe arbeiten. Genauer gesagt: am Abbau selbiger. Das hat sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie gezeigt. Jurist*innen oder Mediziner*innen haben in der digitalen Transformation zwar nach wie vor fachlich einen hohen Wert. Nur entstehen bessere digitale Produkte vor allem durch den Einfluss anderer Fachdisziplinen.

Gestalter*innen von Benutzungsoberflächen, Expert*innen für IT-Sicherheit oder Server-Dompteur*innen sind aus wissenschaftlicher Perspektive weniger angesehen als Berufsstände wie Medizin oder Jura, die traditionell mit Zugangshürden versehen sind. Diese Expert*innen sind jedoch essentiell für den Gesamterfolg digitaler Produkte. Produkte, die nur im vielseitigen Austausch auf Augenhöhe entstehen können.

In diesem Prozess braucht es auch das Eingeständnis, selbst nur über wenige oder sogar keine Fähigkeiten zu verfügen, um die eigene Fachdisziplin im Digitalen zeitgemäß artikulieren zu können. Die best practices, wie Menschen im Digitalen etwa mit Gesundheitsanwendungen interagieren können, liefern nicht die deutschen Krankenkassen, sondern Technologiekonzerne wie Apple. Und gerade in der Abgrenzung zu den wirtschaftlichen Interessen dieser Privatkonzerne gewinnen jene digitalen Produkte an Bedeutung, die ethische Werte und Grundsätze im Digitalen achten.

Das betrifft nicht zuletzt den Datenschutz. „Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgang mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren.“ So heißt es im Eid des Hippokrates. Mehr als 2.000 Jahre später sollte dieser Eid auch auf das Digitale angewendet werden. Eine bessere Digitalisierung heißt auch, alte Grundsätze konsequent umzusetzen.

Die erste Generation

All diese Herausforderungen erfordern von der letzten Generation fast schon eine komplette Kehrtwende. Jetzt ist der Moment, in dem Digitales sinnvoll mitgestaltet werden kann und muss. Andernfalls haben wir dazu keine Chance mehr, weil digitale Veränderung schnell und umfassend passiert. Und die Folgen werden weitreichend sein. Denn das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Staat und Gesundheitswesen leitet sich auch wesentlich von deren digitalen Fähigkeiten ab.

Dabei darf eines nicht vergessen werden: Einige, die heute auf Chefposten sitzen und die Weichen für den digitalen Wandel stellen müssen, waren auch schon dabei, als dieser digitale Wandel bei null begonnen hat. Die Generation, die derzeit – wenige Jahre vor dem Ruhestand – noch mit der Digitalisierung fremdelt, ist in Teilen auch jene, welche die aus heutiger Sicht ersten zaghaften digitalen Babyschritte mitgegangen ist. Die letzte Generation ist damit zugleich auch die erste Generation. Es ist wie vieles im Digitalen: Alles ist immer in Veränderung.

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2 Ergänzungen

  1. Dieser oberste Grundsatz öffentlicher Verwaltung (Das haben wir schon immer so gemacht und das machen wir auch weiter so.) scheint aber zu bröckeln …

  2. Deutschland und Digitalisierung – ein lächerlicher Alptraum in drölf Teilen.

    Beim Arbeitsamt, das sich selbst als digitalisiert sieht, gibt es nur eine Seite, wo man PDFs hochladen kann.
    KOMMUNIZIEREN ist über dieses online-Portal NICHT möglich.
    Das wird – wie bisher – per Briefpost erledigt. Die 2 Wochen (!!!) braucht.

    Geht aber noch besser….ähm, schlimmer:

    BaFöG-Antrag stellen – natürlich online. Das kann man auch HOCHLADEN.
    Doch da hörts schon auf:
    Es wird ein leerer Antrag ausgedruckt, danach wird vom hochgeladenen Antrag abgeschrieben und dann wird das erst weiter bearbeitet.

    Und nein, das war jetzt kein Witz: das war die Digitalisierung Deutschlands im Jahre 2023.

    Deutschland ist so lost.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.